Von Ekkehard Felder
In dem Projekt „Dark Heritage & Multidirectional Memory“ untersuchen wir in der Heidelberger Sprachwissenschaft im Rahmen des Forschungstandems „Culture Wars – Kämpfe ums kulturelle Erbe“ nationale und übernationale Perspektiven auf europäische Monumente des Gedenkens. Uns interessiert, wie in der Erinnerungskultur das Gedenken an einen Menschen, an einen Ort, an ein Ereignis, an eine Gesinnung usw. kultiviert wird. In Südafrika beispielsweise erinnert man an Nelson Mandela, besucht die Gefängnisinsel Robben Island, gedenkt des Jahrestages seiner Entlassung aus dem Gefängnis und fragt nach den Folgen der Apartheidpolitik. Das Gedenken und die damit verbundene Wertschätzung bleiben aber nicht immer stabil, wandelt sich im Laufe der Zeit mitunter. Ein Erbe, das einst hell erstrahlte, kann plötzlich verdunkeln – also an Strahlkraft und Vorbildfunktion verlieren.
Nehmen Sie Otto von Bismarck. Wikipedia resümiert: „Bismarck gilt als Vollender der deutschen Einigung und als Begründer des Sozialstaates der Moderne“. Und im Auswärtigen Amt – so berichtet der Spiegel – benennt man das „Bismarck-Zimmer um: Otto von Bismarck ist offenbar kein deutscher Staatsmann, an den man sich im Auswärtigen Amt noch erinnern möchte.“ Und die Zusammenfassung des Spiegels lautet wie folgt: „Da er den Ruf als Vollender der deutschen Einheit innehat, erinnern deutschlandweit zahlreiche Denkmäler an ihn. Als im Jahr 2020 weltweit Aktivisten gegen die Verherrlichung historischer Rassisten vorgingen, wurde aber auch in Deutschland über die Bismarck-Denkmäler debattiert.“ Historisches Erbe, das einst erstrahlte, ist „verdunkelt“ (siehe Projektglossar).
Um alle erregten Gemüter gleich zu beruhigen: Es geht mir nicht um das adäquate Erinnern an Otto von Bismarck. Um dies deutlich zu machen, haben wir uns in Richtung Westen nach Kanada auf den Weg gemacht – da können wir ähnliche Prozesse vielleicht besser aus der Außenperspektive betrachten. Unser Kooperationspartner an der University Britisch Columbia (UBC) – Dr. Florian Gassner – hat ein beeindruckendes Vorhaben aus der Taufe gehoben: „Canadian Monument to Central and Eastern European History“. Dort untersucht er den kulturellen Einfluss der vielen Kanadier, die sich auf ein mittel- und osteuropäisches Erbe berufen – etwas 20 % der Bevölkerung. Zahlreiche Denkmäler im ganzen Land dokumentieren ihre Einwanderungsgeschichte, die Geschichte, die zu ihrem Umzug nach Kanada führte, und ihre Beiträge zu ihren neuen Gemeinschaften. Unser Projekt befasst sich mit den politischen Botschaften, die diese Denkmäler vermitteln, und den Gründen für die Form deren „Heiligsprechung“.
Überlieferung – also jemand anderem eine Geschichte mitgeben – ist das, was von einer Generation zur anderen Generation weitererzählt wird. Welchen semantischen Mehrwert bringt da der Anglizismus „Heritage Making“? Guillaud et al 2016 definieren dieses Phänomen wie folgt: „The process of heritage-making, also termed heritagization, entails the interplay of stakeholders who have different perspectives of the past and visions for the future.“ (Guillaud D, Beaulaton D, Cormier Salem M, Girault Y. 2016. Ambivalences patrimoniales au sud: Mises en scène et jeux d’acteurs. Paris, France: Institut de Recherche pour le Développement, Karthala.) Offensichtlich ist in dieser Redeweise das Erbe nicht einfach da, sondern wird von jedem Sprecher beim Erzählen wieder neu konstituiert (siehe „Sagen lassen sich die Menschen nichts, aber erzählen fast alles“). Das vermeintlich stabile Erbe wird also mit leicht individualistischer Sichtweise vor dem Hintergrundrauschen der großen Erzählungen je zeitgebunden hergestellt (siehe zur Faktizitätsherstellung „Der „Faktencheck“ als Ersatzwahrheit? Von Daten und Fakten auf der Suche nach Objektivität“). Und was folgt daraus – also aus der Verknüpfung von alt hergebrachter Überlieferungsvorstellung einerseits und dem je Zeitgeist-gebundenen Herstellen kulturellen Erbes als perspektiven- und interessengebundenes Konstrukt andererseits? Das Erbe ist im Fluss.
Im vergleichsweise jungen Einwanderungsland Kanada ist Heritage-Making im Spannungsfeld unterschiedlicher Kulturen verortet. Insbesondere im Kontext öffentlicher Gedenkkultur müssen staatliche Institutionen als Diskursakteure zwischen konkurrierenden Perspektiven und Interessen vermitteln. Florian Gassner aus Vancouver verweist auf zwei Exempel: zum einen auf das National Holocaust Monument in Ottawa, das bereits kurz nach seiner Fertigstellung aufgrund der Kritik jüdisch-kanadischer Gruppen verändert werden musste, und das anschließend von ukrainisch-kanadischen Kreisen kritisiert wurde. Noch umstrittener ist das derzeit in Ottawa errichtete Memorial to the Victims of Communism, das nach der Veröffentlichung des endgültigen Entwurfs infolge des öffentlichen Drucks zweimal umgestaltet werden musste, wobei es sich beim zweiten Entwurf um ein vollkommen neues Konzept handelte.
Beim Heritage-Making führen verschiedene Interessengruppen semantische Wettkämpfe über bevorzugte Bezeichnungen aus – und zwar sollen dadurch bestimmte handlungsleitende Konzepte stark gemacht werden. Kunstwerke als ikonische Zeichen werden durch Sprache erklärt. Mit Sprache wird den Kunstwerken Sinn zugeschrieben. Einzelne Bestandteile eines Monuments sollen für etwas stehen, es werden Eigenschaften attribuiert.
Ein kurzer Blick zurück auf die Entstehung der 2711quaderförmigen Betonstelen neben dem Brandenburger Tor in Berlin als „Erinnerung“ oder „Denkmal“ oder „Mahnmal“ oder „Gedenkstätte“ oder „Informationsort“ an den Holocaust kann diesen abstrakten Gedanken illustrieren [vgl. Berlin.de – Das offizielle Hauptstadtportal]: Am 25. August 1988 verlangte die Publizistin Lea Rosh in Berlin ein „sichtbar gemachtes Bekenntnis zur Tat“ zu errichten. Es geht um ein „Mahnmal für die ermordeten Juden Europas“. 1995 spricht sich eine Jury für den Entwurf der Berlinerin Christine Jacob-Merks aus, eine „100 mal 100 Meter große Grabplatte mit 4,5 Millionen Namen ermordeter Juden“. Im Jahr 1997 setzt sich langsam der Entwurf des heute existierenden „Stelenfeldes“ durch; „Stele“ ist ein Wort für einen Pfeiler oder auch einen Grabstein. Von daher stehen die Stelen als Zeichen für Gräber oder Särge. Wikipedia zitiert den Architekten: „Peter Eisenman nannte das Stelenfeld einen „place of no meaning“ (‚Ort ohne bestimmte Bedeutung‘).“ Des Weiteren führt er aus: „Das Ausmaß und der Maßstab des Holocaust machen jeden Versuch, ihn mit traditionellen Mitteln zu repräsentieren, unweigerlich zu einem aussichtslosen Unterfangen. […] Unser Denkmal versucht, eine neue Idee der Erinnerung zu entwickeln.“ Im Jahre 2000 entscheidet sich das Kuratorium der Mahnmal-Stiftung zusätzlich für einen unterirdischen Ergänzungsbau als „Ort der Information“, andere nennen dieses Gebäude „Haus des Erinnerns“.
Was das Ganze mit Sprache zu tun hat? Mit Sprache gedenken wir, in Sprache manifestieren sich Erinnerungsformen. Routinen des Erinnerns (z.B. anlässlich des Kriegsendes, heldenhafter Widerstandshandlungen usw.) sind gefangen in dem Zeicheninventar einer Sprache und seiner begrenzten Kombinierbarkeit (= „semiotische Gefangenschaft“). In meinem Aufsatz „Verfestigte Sprache: Parteien-Sprech zwischen Jargon der Anmaßung und angemessenem Sprachgebrauch“ versuche ich die Problematik der semiotischen Gefangenschaft darzulegen. Es kommt aber noch etwas anderes hinzu: Roland Barthes spricht in seinem Aufsatz „Historie und Diskurs“ (in der Zeitschrift alternative 62/63, 1968, S. 173) von der weiteren Schwierigkeit der „Koexistenz, oder besser gesagt, [von] der Reibung zweier Zeiten, der Zeit des Aussagens und der Zeit des ausgesagten Stoffes.“ Linguistisch übersetzt heißt dies: Wir müssen zwischen der Sprache des Erinnerns und der Sprache der erinnerten Zeit unterscheiden. Wir haben es mit Erkennungsworten perspektivengebundenen Heritage-Making zu tun – oder wie das Motto meines Blogs „Semantische Wettkämpfe“ sagt: Wie die Sprache, so die Denkungsart.
Ein imposantes Beispiel stellt der Paradigmenwechsel im Sprechen über den 8. Mai 1945 dar, das Ende des Zweiten Weltkrieges: Bis 1985 sprach die Mehrheit der Deutschen vom „Tag der Niederlage“ oder der “Kapitulation”. Nach einer historischen Gedenkrede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker vom 8. Mai 1985 setzte sich auch die Sprechweise des damaligen Bundepräsidenten vom „Tag der Befreiung“ vom Nationalsozialismus durch. Richard von Weizsäcker hat mit seiner viel beachteten Rede das Erinnern in eine andere Richtung gelenkt – also einen Paradigmenwechsel eingeleitet, der sich in den Schlüsselwörtern von der „Niederlage“ bzw. „Kapitulation“ und „Befreiung“ verdichtet. Im Mai 1949 reflektierte der spätere Bundespräsident Theodor Heuss vor dem parlamentarischen Rat die Widersprüchlichkeit des Kriegsendes aus deutscher Sicht: „Im Grunde genommen bleibt dieser 8. Mai 1945 die tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte für jeden von uns. Warum denn? Weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind.“ Theodor Heuss sprach von „Erlösen“ und Vernichten“, viele Zeitzeugen empfanden diesen Tag als „Stunde Null“ und bezeichneten ihn deshalb so.
Das Ringen und die öffentliche Auseinandersetzung um das angemessene Gedenken gewährleistet einen ständigen Perspektivenabgleich verschiedener Interessengruppen. Darüber hinaus zeigt sich in der Suche nach den richtigen Worten, dass nicht jede Bezeichnung von allen Diskutanten gleich aufgefasst und eingeschätzt wird. Im Ringen nach Worten manifestiert sich die dynamische und je zeitgebundene Adaption des Vergangenen. Wenn wir dies respektvoll und nicht rechthaberisch hinbekommen, gelingt die Horizonterweiterung.
Hinweis: Der Artikel erschien zuerst auf Ekkehard Felders persönlichem Blog Semantische Wettkämpfe.