Culture Wars - Kämpfe ums kulturelle Erbe
Culture Wars - Kämpfe ums kulturelle Erbe

Das Projektglossar - Unser theoretisches Fundament

Ziel des Forschungstandems ist es unterschiedliche Transformationsprozesse des kulturellen Erbes von Gesellschaften zu untersuchen. Für unsere Forschung ist ein dabei ein gemeinsamer Grundstock theoretischer Fachbegriffe und Vorannahmen dabei unerlässlich, vor allem weil wir (weit) über disziplinäre Grenzen hinweg denken und forschen möchten.

In diesem Glossar haben wir eine kompakte Übersicht der wichtigsten Begriffe zusammengestellt und erläutern diese kurz.

Kulturelles Erbe als immaterielles oder materielles Artefakt einer Gesellschaft stellt ein kollektiv identitätsstiftendes, potenziell emotional aufgeladenes soziales Bezugsphänomen dar, das vergangenes Orientierungswissen für Gegenwart und Zukunft einer Gesellschaft oder Gesellschaftsgruppe relevant setzt.

Kulturelles Erbe definiert das Tandem als tangible oder intangible, materielle oder immaterielle Artefakte einer sozialen Gruppe oder Gesellschaft, die diese als von vorhergehenden Generationen vererbt wahrnimmt bzw. konstruiert. Von dieser Gesamtheit kulturellen Erbes besitzt dabei immer nur ein Teil gesellschaftliche Relevanz, Bedeutung und Autorität und kann somit als „bewohnt“ bezeichnet werden. Um diesen funktionalen Status eines Erbes aufrechtzuerhalten, muss eine Gesellschaft(-sgruppe) entsprechende Wertzuschreibungen stets reproduzieren, i.e. diese stetig diskursiv wie performativ „am Leben halten“. Ein solches kulturelles Erbe kann sich dabei aus mehreren Teilen zusammensetzen, wobei das Kulturgut einen Nukleus temporal beständiger Interpretation besitzt, ein Kern- oder Kardinalerbe, das mit periphereren, variabel verhandelten, umrahmenden Erbteilen versehen ist – einem Rahmenerbe, das wiederum den Kern der Interpretation stützt. Kulturellem Erbe kommt dabei gegenüber seiner gesellschaftlichen Träger dreierlei relationale Qualität zu: Mit dem Anspruch und der Definition kulturellen Erbes verstetigt sich dessen besonderer Status als schützenswerte temporale Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft. Gleichzeitig geht mit eben dieser Inanspruchnahme die Zuschreibung besonderer Bedeutung und Autorität einher, sodass kulturelles Erbe stets eine politische Qualität besitzt. Diese wird beispielsweise bei der Kuration kultureller Güter offenbar: Indem zwischen kulturelles Erbe von anderen gesellschaftlich-historischen Artefakten unterschieden wird, findet eine hierarchische Ordnung unterschiedlicher Vergangenheitsbezüge Einzug. So verstetigen sich politische Gruppenidentitäten, soziale Ordnungen und Herrschaftsstrukturen. Letztlich übt kulturelles Erbe gegenüber der Trägergruppe zudem stets eine emotional-affektive Bindewirkung der Selbstvergewisserung aus. Deren Ablehnung durch oppositionelle Gesellschaftsgruppen wiederum ist zugleich häufig mit starken negativen Emotionen verbunden. Teilt ein großer Teil der jeweiligen Gesellschaftsgruppe eine solche negative Interpretation gegenüber dem kulturellen Artefakt, sprechen wir auch von Dark Heritage.

Beispiel: Lange Zeit als Nationalheld, erfolgreicher Unternehmer und Staatsmann gefeiert, bietet sich Cecil Rhodes und die Wahrnehmung seiner Figur als Beispiel für ein gut zu umreißendes (Teil-)Erbe an. Bereits seit den 1950er Jahren wächst in der Öffentlichkeit die Opposition gegen das Teil-Erbe des Cecil Rhodes-Gedenkens, zunehmend verdunkelt wahrgenommen im Kontext der britischen Kolonialgeschichte, Rhodes‘ unternehmerischen und politischen Handelns und seines Glaubens an die Briten als „erste Rasse der Welt“. Untrennbar von der Geschichte des Kolonialismus, erfährt das Erbe Cecil Rhodes‘ insbesondere seit der 2015 ins Leben gerufenen „Rhodes Must Fall“-Bewegung eine grundlegende Umdeutung, welche sich am sichtbarsten in Forderungen nach dem Abbau von Cecil Rhodes Memorials niederschlägt. Trotz Weiterbestehens von Teilen des ehemals „strahlenden“ Erbes – etwa in Form des immer noch prestigeträchtigen Rhodes-Stipendiums – scheint die Verdunkelung des Erbes Cecil Rhodes für Teile der Gesellschaft sowohl in Südafrika als auch in Großbritannien weit fortgeschritten.
Dark Heritage ist das negative, toxisch-mahnende historische Erbe einer Gesellschaft oder Gesellschaftsgruppe.

Analog zum kulturellen Erbe definieren wir Dark Heritage als gesellschaftliche Artefakte, die mit negativer zeitlicher, politischer und emotional-affektiver Qualität behaftet sind und vom Großteil der jeweiligen Gesellschaft entsprechend erkannt werden. Dark Heritage ist in seiner Wirkungsgeltung vom Präsens und der Zukunft abgeschnitten bzw. übt darüber gegenteilige Wirkung auf derzeitiges und künftiges Verhalten aus. Die politische Wirkung des historischen Referenzpunktes wird von Diskursakteuren, Kuratoren und politischen Entscheidungsträgern in sich abgrenzender Art und Weise identitätsstiftend wahrgenommen. Dabei wirkt das kulturelle Erbe nicht positiv handlungsleitend, sondern als mahnende Erinnerung. Am deutlichsten ist der Charakter von Dark Heritage jedoch von seiner affektiven Qualität geprägt: mit dem historischen Erbe werden starke negative – toxische –Emotionen wie Scham, Ekel oder Wut verbunden, die zu existentieller Ablehnung führen.

Beispiel: Das im deutschen Kontext wohl naheliegendste Beispiel für Dark Heritage, der Holocaust, weist sämtliche oben genannte Merkmale auf. Die Erinnerung an den Holocaust und die Verbrechen des Nationalsozialismus sind heute nicht nur in negativer Umkehr identitätsstiftend und zukunftsweisend, sondern für einen Großteil der Gesellschaft auch mit stark negativem Affekt verbunden.
Kuration ist die Selektion kulturellen Erbes durch gesellschaftliche Kuratoren.

Als Kuration bezeichnen wir die Aushandlung des Status eines kulturellen (Teil-)Erbes, die innerhalb von Kurationskulturen durch aktive Kuratoren vorgenommen wird. Als Kuratoren verstehen wir dabei gesellschaftliche Akteure, die die Rolle des gesellschaftlichen Erbverwalters für sich in Anspruch nehmen und/oder diese von der jeweiligen Gesellschaft zugewiesen bekommen haben. Dabei interessieren uns zunächst Prozesse des Heritage-Making, also der wertbasierten Auswahl, Definition und diskursiven Pflege des Anspruchs und des Status kulturellen Erbes für die sich als Kulturgemeinschaft begreifende Gruppe oder Gesellschaft. Dieser soziokulturelle Prozess des Heritage-Making lässt sich aus unserer Perspektive heuristisch in zwei Vorgänge unterteilen – den der Konsekration und den der Symbolisierung. Konsekrationsprozesse verleihen Kulturgütern Autorität, die oft auch institutionell gesichert sein kann. Dabei werden diese den rein funktionalen Gebrauchslogiken der Alltagspraxis entzogen, mit gesellschaftlicher Bedeutung aufgeladen und in ihrem Status als schützenswert, handlungsleitend und identitätsstiftend hervorgehoben. Dabei sprechen wir auch vom gesellschaftlichen ‚Strahlen‘ eines Kulturguts. Die symbolische Komponente des funktionalen kulturellen Erbes wiederum betrifft den konventionalisierten Bedeutungsgehalt der Kulturgüter. Welche Bedeutungsaspekte des kulturellen Erbes in einem bestimmten Diskurs dominant gesetzt werden, spiegelt wider, welche entsprechenden Normen, Werte und Ideologien zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Gesellschaft den öffentlichen Raum und das geteilte Kulturbewusstsein bewohnen. Kuration im Sinne des Heritage-Making kann dabei somit abstrakt als selektiver, sowohl potentiell konservativ-originalistischer als auch progressiver Akt unterschiedlicher Akteure verstanden werden. Gleichzeitig interessiert uns im Besonderen der Prozess der Verdunkelung als spezifische Form der kulturellen Kontestation, bei der gesellschaftlich als Kulturerbe akzeptierte Güter und Artefakte mit einer alternativen, negativ-toxischen Interpretation aufgeladen werden.

Beispiel: Eine besonders sichtbare Kurations-Praxis ist die der literarischen Preisverleihungen. So fungiert die Verleihung des Literaturnobelpreises als eine institutionell gestützte Konsekration des Lebenswerks des/der Preistragenden, welche von großen Teilen der Gesellschaft als solche anerkannt wird. Der Akt der Kuration besteht in diesem Beispiel in der Entscheidung des Nobelpreis-Komitees für einen Autoren oder eine Autorin, dessen/deren Werk diese Distinktion in ihren Augen verdient. Im Falle der kulturellen Kontestation dieser Kuration – so etwa im Beispiel des Literaturnobelpreisträgers Peter Handke – kann als Reaktion auf einen solch deutlich sichtbaren Kurationsakt ein gesellschaftlicher Diskurs über das geehrte Erbe(wieder) entflammen, welcher sich mithilfe des Verdunkelungsprozesses und des Culture War-Begriffs beschreiben lässt.
Kurationskulturen sind die Auswahlforen kulturellen Erbes.

Als Kurationskulturen verstehen wir explizit einen mehr oder weniger allgemein zugänglichen/öffentlichen Praxisraum der Kuration, in dem Initiativen der Definition, Artikulation und Pflege kulturellen Erbes auf der einen, der Kontestation und Neubewertung auf der anderen Seite stattfinden. Dabei werden in der jeweiligen Kurationskultur die entscheidenden gesellschaftlichen Deutungskämpfe gesellschaftlicher Artefakte ausgefochten. Hier wird entschieden, was (in den Augen der Mitglieder der Kurationskultur) kulturelles Erbe ist, was nicht und vor allem, was dieser Status konkret bedeutet. Dieser Raum wiederum wird bestimmt von und setzt sich zusammen aus einzelnen Kuratoren, die im Prozess des Heritage-Making häufig ein hohes Maß an Professionalisierung, institutionalisierter Autorität sowie gesellschaftlicher Autonomie und somit Diskurs- und Deutungsmacht besitzen. Zugleich existieren jedoch auch solche Kurationskulturen, die im Zuge eines Bottom-Up-Prozesses erweitert werden, wobei sich einzelne Akteure nicht selten auch explizit gegen die etablierten Kuratoren stellen. Insgesamt finden dadurch je nach Kulturgut unterschiedlich viele Perspektiven und Meinungen Gehör, sodass die Diskussionsräume mal mehr, mal weniger öffentlich oder exklusiv zugänglich sind. Zudem werden die jeweiligen Kurationsräume von der Öffentlichkeit als unterschiedlich relevant und repräsentativ wahrgenommen.

Beispiel: Das Konzept der Kurationskultur lässt sich ebenfalls gut am Beispiel des Literaturmarktes und des Literaturpreise-Systems nachvollziehen. So stellt in unseren Augen etwa das Komitee des Literaturnobelpreises eine (institutionalisierte und prestigeträchtige) Kurationskultur dar, welche mit ihrer großen Deutungsmacht starken Einfluss auf eine Ebene des literarischen Feldes ausübt. Ebenso existieren jedoch vielfältige weitere Kurationskulturen, die innerhalb verschiedener Ebenen und Einflusskreise agieren: Hierzu gehören der Feuilleton, einflussreiche Gruppen von Autoren und Literaturkritikern, Mitglieder der akademischen „prize economy“, die sich vor Allem in den USA beobachten lässt, ebenso wie die populäre Rezeption in Book Clubs oder auch die Literaturwissenschaft selbst.
Verdunkelung ist die Neuinterpretation gesellschaftlichen Erbes, bei der das Symbolisierungsspektrum direkt in Frage gestellt und zunehmend auf die problematische Bedeutung verengt wird. Verdunkelung beschreibt den Weg eines strahlenden Erbes hin zu Dark Heritage.

Als Verdunkelung verstehen wir den Prozess der Neubewertung des Status des kulturellen Erbes oder Erbteils. Im Laufe dessen vollzieht sich ein Perspektivwandel bezüglich des zu Beginn als strahlender, von der gesamtgesellschaftlich geteilten Mehrheitsmeinung getragener Referenzpunkt fungierenden Erbes, dessen Symbolisierungsspektrum direkt in Frage gestellt und zunehmend auf die problematische Bedeutung verengt und an dessen Ende das kulturelle Erbe als Dark Heritage wahrgenommen wird. Verdunkelung als Prozess verläuft dabei vor allem anhand zweier Mechanismen: Verdunkelung kann einerseits abstrakt als nachlassende Validität (explizite Anerkennung) eines kulturellen Erbes erkannt werden, sowie als aktive toxisch-negative Neuinterpretation, die es in einer Gruppe primär über Sprechakte erfährt. Andererseits vollzieht sich der Prozess anhand nachlassender Faktizität, d.h. der Geltung, welche das Erbe für das Handeln der Akteure entfaltet. Ebenso können individuelle sowie systemisch-symbolische (bspw. gewalttätige) Handlungen/Nicht-Handlungen als Quasi-Diskursbeiträge fungieren, indem sie eine explizite diskursive Reaktion anstoßen und geradezu notwendig fordern. Verdunkelungsprozesse verlaufen dabei graduell, ergebnisoffen und nicht irreversibel.  Verdunkelung kann jedoch einen temporären Abschluss finden, wenn der Perspektivenwechsel und die neue gesellschaftliche Mehrheitsmeinung gesellschaftlich kuratiert werden (s.o.) – bis hin zur legislativen Verstetigung. Verdunkelungsstrategien können sich für unterschiedliche Artefakte – also auch unterschiedliche Kurationskulturen – durchaus ähneln; etwa ist anzunehmen, dass in Anfangsstadien der Verdunkelung beziehungsweise der negativ gerichteten Neuinterpretationen vor allem eine affektive Komponente eine tragende Rolle spielt; gleichsam ist anzunehmen, dass sich Verdunkelungsstrategien in unterschiedlichen Kurationskulturen auch periodenspezifisch ähneln und durch gesellschaftliche Makrotrends und -strömungen bedingt sind (vgl. Populismus, Digitalisierung, Globalisierung).

Beispiel: Um den dynamischen und ergebnisoffenen Prozess der Verdunkelung anhand eines Beispiels nachzuvollziehen, eignet sich die Figur des Thomas Jefferson. Als dritter Präsident der Vereinigten Staaten, „Founding Father“ und einer der Autoren der Unabhängigkeitserklärung blieb die hegemoniale Konsekration des Jefferson-Gedenkens in den USA lange beinahe unangetastet – bezeugt durch zahlreiche Memorials und Gedenkstätten, darunter Mount Rushmore und das monumentale Jefferson Memorial selbst. Auch zeitweilige Kritik an seiner politischen Gesinnung im 19. Jahrhundert kommt daher noch keiner signifikanten Herausforderung oder Problematisierung des Jefferson-Gedenkens gleich. Von wachsender Bedeutung sind jedoch die sogenannte Sally-Hemmings-Affäre und Jeffersons eigene Sklavenhaltung – diese ergänzen (siehe Phase 1) das Jefferson-Bild in der öffentlichen Verhandlung durch aus heutiger Sicht problematische Referenzen. Obwohl die Kontroverse über die Kinder der Sklavin Sally Hemmings und Jeffersons vermutete Vaterschaft bereits seit Beginn des 19. Jahrhunderts besteht, führt sie erst im Kontext der „hot-button issues“ der Civil Rights und antirassistischen Bewegungen des 20. Und 21. Jahrhunderts zu einem potentiell rivalisierenden Deutungsangebot (Phase 2) des öffentlichen Jefferson-Gedenkens. Trotz des Bestehens dieser verdunkelten Deutungen findet im Falle der Person Thomas Jefferson jedoch (noch?) keine Überwölbung des kulturellen Erbes statt: Eine verengt negative Symbolisierung oder sogar Tabuisierung (Phase 3) des „Founding Father“ für das hegemoniale Narrativ US-amerikanischen Staatsgründung scheint bislang höchst unwahrscheinlich, wenn auch im Rahmen des Verdunkelungsprozesses in der Zukunft nicht unmöglich.