CULTURE WARS UND SPRACHKRITIK
Wie Kämpfe um Kultur sich in Kämpfen um Sprache äußern
Von Sven Bloching
CC-Lizenz von Thomas Hawk auf Flickr
Das linguistische Teilprojekt des Forschungstandems setzte sich in verschiedenen Publikationen mit dem Verhältnis zwischen Sprachkritik und Moralkritik, zwischen Sprachwandel und Kulturwandel, zwischen semantischen Kämpfen und politischen Kämpfen um kulturelles Erbe auseinander. In diesem Beitrag finden sich Links zu den Veröffentlichungen, die im linguistischen Teilprojekt entstanden sind, samt einer kurzen Beschreibung ihrer thematischen Zusammenhänge.
Vagheit und Unsicherheit als Motor von Sprach- und Kulturkämpfen
Eine entscheidende Rolle bei der sprachlichen Auseinandersetzung um kulturelles Erbe spielt Vagheit. Gerade aufgrund der Vielfalt an Interpretations- und Symbolisierungsprozessen entstehen kulturelle Kämpfe um die „richtige“ Deutung eines Ereignisses wie der Weimarer Hyperinflation oder um die „eigentliche“ Bedeutung einer gesellschaftlichen Institution wie der Ehe. Dabei bieten die stete Unterbestimmtheit und Dynamik eines Zeichens Diskursakteuren erst die Möglichkeit, in einen agonalen, demokratischen Austausch zu treten und auch mit altbewährten Formen immer wieder neue Perspektiven in den Diskurs einzubringen.
Vor diesem Hintergrund wird die Vagheit von Zeichenformen oftmals als Problem angesehen für interessengeleitete Versuche, die eigene Perspektive auf die Welt in einer bestimmten Sprachform festzuhalten. Felder zeigt in seinem Aufsatz Vagheit als Chance verstehen. Pragma-semiotische Erdung von Veruneindeutigungen als Formen diskursiv instruierter Wissenskonstitution jedoch auch, dass die Vagheit in der Sprache nicht nur unvermeidbar ist, sondern auch wünschenswerte Potenziale hat. Vagheit zeigt auf, dass Rezipierende den Wörtern mit ihrer unerschütterlichen und „eigentlichen“ Bedeutung nicht willenlos ausgeliefert sind, sondern sich in aktiven Verstehensprozessen und unter Rückgriff auf ihr eigenes Vorwissen den Sinn eines Wortes, einer Äußerung, eines Textes selbst erschließen. Dies zeigt sich besonders am Wandel der Begriffe ›Ehe‹ und ›Familie‹ in den letzten Jahrzehnten, der eine Anpassung an einen kulturellen Wandel darstellt und ohne Vagheit nicht denkbar wäre. Statt einer einseitigen Beeinflussung vom Sprecher über die Sprache zum Hörer, ist hier an einen dynamischen, wechselseitigen Austausch zu denken – zwischen Sprechern, Hörern und Sprachsystem. Somit instruiert Sprache das Denken zwar – sie weist Wege, bietet Möglichkeiten und schränkt auch ein – sie determiniert das Denken aber nicht; und zwar deshalb, weil man es immer auch anders meinen und anders verstehen kann.
In diesem Zusammenhang untersuchten Barkhausen, Bloching und Engeler in ihrem Paper Aufweichen, abbremsen, abschirmen – Wirtschaftsmetaphern zwischen politischer Abgrenzung und diskursiven Allgemeinplätzen in interdisziplinärer Zusammenarbeit des linguistischen und des politikwissenschaftlichen Teilprojektes das Instruktionspotenzial von Metaphern im fiskalpolitischen Diskurs. In Kulturkämpfen um das fiskalpolitische Erbe der Weimarer Republik versuchen Akteure immer wieder, mit verschiedensten Metaphern, ihre Perspektive im Diskurs durchzusetzen. Ob und wie dies gelingt, untersuchten die drei mit einer interdisziplinären Triangulation aus qualitativen sozialwissenschaftlichen, quantitativen korpuslinguistischen und hermeneutischen textlinguistischen Analysen. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass der Gebrauch von Metaphern zwischen verschiedenen Parteien zwar variiert, es Akteuren aber stets möglich ist, sich der Metaphern des politischen Gegners zu bedienen und diese aufgrund ihrer Vagheit und Unterbestimmtheit neu zu perspektivieren. So ist bspw. Schuldenbremse eine klassische Metapher von Befürwortern einer strengen Austeritätspolitik, derselbe Ausdruck lässt sich jedoch auch verwenden, um ebendiese zu kritisieren, indem Bedeutungsaspekte der Bremse als ungewünschte Verlangsamung, als „Klotz am Bein“ aktiviert werden: „Die Schuldenbremse ist eine Zukunftsbremse“, „Eine dicke Bremsspur für die Wirtschaft“.
Fixierungsversuche: Ge- und Verbote in der Sprache
Die Vagheit der Sprache spielt bei Kämpfen um die Deutung kulturellen Erbes also eine entscheidende Rolle. Da die jeweiligen Akteure in Kulturkämpfen Vagheit zwar nutzen können, letztlich jedoch auf Eindeutigkeit und die Durchsetzung ihrer eigenen Perspektive hinarbeiten, spielt die gegenläufige Tendenz eine ebenso große Rolle: Versuche der Fixierung von Sprache. Solche Fixierungsversuche können der politischen Profilschärfung und Wiedererkennbarkeit dienen. Sie können aber auch Teil einer elitären Überhöhung über die restliche Sprachgemeinschaft sein – besonders dann, wenn sie die erwähnten Vagheitspotenziale ausklammern und eine „eigentliche“ Bedeutung für sich in Anspruch nehmen.
Felder zeigt in seinem Aufsatz Rhetorische Waffen der Eliten? Für einen angstfreien Umgang mit der Sprache und wider den Wortobjektivismus, inwiefern einzelne Ausdrücke in der Sprache mit einer solchen Indikatorfunktion aufgeladen werden können, die nicht etwa auf den versprachlichten Gegenstand, sondern auf den Verwender des jeweiligen Wortes verweist und etwas über diesen ausdrücken soll. Problematisch wird dies, wenn unterschiedliche Wörter nicht nur individuelle, gleichberechtigte Perspektiven ausdrücken sollen, sondern auch als Indikatoren für Bildung und Nicht-Bildung verwendet werden – wenn sie mit Prestige und Stigma aufgeladen werden. Dann führt die Möglichkeit der sozialen Distinktion durch Sprache zur Angst vor sozialer Ausgrenzung. Sprachliche Ratschläge sollen deshalb nicht bevormunden oder die vermeintliche Wirkung einzelner Ausdrücke verabsolutieren. Diese Tendenz, einen bestimmten Sprachgebrauch als zwingend vorzugeben, weil mit ihm eine vorhersehbare Assoziation in allen Rezipientenköpfen quasi-natürlich verbunden wäre, bezeichnet Felder als Wortobjektivismus. Statt sprachliche Ausdrucksmittel absolut zu setzen (vorzuschreiben oder zu verbieten) und sie mit dem Anspruch der Eindeutigkeit zu überfordern, soll eine linguistische Sprachkritik die pragmatischen Zusammenhänge von Ausdrücken und ihrer möglichen Wirkung reflektieren. Felder schlägt hierfür ein Modell des Sprecher-Hörer-Wort-Welt-Verhältnisses vor, das nicht nur das Wort fokussiert, sondern die Angemessenheit der Wortwahl im jeweiligen Kontext transparent machen soll. Letztlich muss der aufgeklärte Sprachbenutzer selbst über die eigene Wortwahl entscheiden – und dann auch die Verantwortung für die tatsächlichen Wirkungen in den konkreten Gebrauchssituationen übernehmen.
Eine konkrete Möglichkeit der Fixierungsversuche in Form von sprachlichen Geboten diskutiert Bloching für die Studierendenzeitung ruprecht der Universität Heidelberg. Diese fragt in ihrem Titel: Dürfen Hochschulen Sprache diktieren? und Bloching erklärt, warum solche oberflächlichen Fixierungsversuche abseits der Schonung der Gemüter keine langfristigen Effekte versprechen können. Demnach ist es aus mindestens zwei Gründen nicht effektiv, Menschen einen bestimmten Sprachgebrauch vorzuschreiben: Erstens erfüllt eine auferlegte Sprachnormierung nicht den Zweck, den sie erfüllen soll. Man kann Menschen zwar auf willkürliche Buchstabenfolgen verpflichten, nicht aber auf die geistige Haltung, die man selbst damit verbindet. Der Sinn von Sprache entsteht nicht durch einzelne Wörter, sondern durch komplexe sozial-situative Zusammenhänge, in denen jeder Wortschatz intolerant genutzt werden kann. Zweitens verwischt durch die Vorgabe einer bestimmten Sprachnorm die positive demokratische Wirkung von "political correctness". Indem gesellschaftliche Gruppen ihre Positionen authentisch ausdrücken, wird ihre Perspektive durch ihre Wortwahl deutlich. Wird die Simulation eines bestimmten Sprachgebrauchs diktiert, so verkommen sprachliche Ausdrücke zu oberflächlichen Routineformeln ohne eine solche Unterscheidungsfunktion.
Mit dem umgekehrten Fall der Sprachfixierung, den Wortverboten, beschäftigt Felder sich in seinem Blogbeitrag mit dem Titel „Was die Wanze tötet, tötet auch den Popen“: Sprachkritik versus Freigeist. Der Titel spielt an auf eine Parabel von Fritz Mauthner über einen Popen, der versucht, mit einem starken Mittel („aus der großen Stadt, wo die Universität ist“) die Wanzen in seinem Bett zu töten – und am nächsten Morgen selbst tot in diesem Bett liegt. Für Felder sind wir alle dieser Pope, als reflektierte Sprachbenutzer, die versuchen, die Wanzen in der Sprache zu bekämpfen: „Wanzen im Sinne von Wortungeheuer stehen für Auswüchse oder unerwünschte Ausrutscher im Sprachgebrauch, für die Nicht-Fixierbarkeit der Wortbedeutung, für ihre Flüchtigkeit, für das Problem, dass Ausdrücke nach außen gleich sind, aber nach innen bei verschiedenen Menschen nicht-identische Bedeutungen hervorrufen können.“ Das Mittel steht für eine Sprachkritik, die dann übers Ziel hinausschießt, wenn sie den Popen tötet – den sprachkritischen Menschen vielleicht mundtot macht. Das Mittel der Wahl ist stattdessen eine Sprachkritik, die komplexere Zusammenhänge reflektiert und offen diskutiert – und sich mit der Möglichkeit für Bettwanzen wohl oder übel abfinden muss.
In seinem Aufsatz Strukturelle Dialogizität plädiert Felder deshalb dafür, in wissenschaftlichen Zusammenhängen rein deskriptiv Form-Funktions-Wirkungs-Korrelationen für bestimmte sprachliche Ausdrücke aufzudecken, da dies bereits politische Implikationen hat – im Sinne der sprachlichen Aufklärung und Transparentmachung diskursiver Funktionsweisen. Mündige Rezipienten sollen auf dieser Grundlage informierte und eigenständige Entscheidungen über ihre Wortwahl treffen können, anstatt von wissenschaftsaktivistischen Autoritäten zu einer bestimmten Wortwahl verpflichtet zu werden. Vielmehr hat die Diskussion über Wörter und ihre potenziellen Effekte selbst einen Wert und muss stetig am Laufen gehalten werden. Felder stellt sich gegen absolute Wahrheiten und moralische Letztbegründungsargumente, jenseits derer nicht mehr diskutiert werden dürfe. Siehe hierzu auch seinen Vortrag auf der diskursmonitor-Tagung.
Von der Politik über die Moral zum Prestige
Die Sprachwissenschaft sollte Kulturkämpfe also beschreiben, statt sie selbst mit ihrer Deutungshoheit auszufechten. Zu einer offenen Sprachkritik jenseits simpler Vorschriften und Verbote gehört somit auch, dass die letztliche Entscheidung darüber, welches Wort Akteure verwenden, diesen selbst zugestanden wird. Dies setzt jedoch voraus, dass sich verschiedene Positionen zumindest prinzipiell auf Augenhöhe begegnen können und sich nicht gegenseitig ihre Existenzberechtigung absprechen. Jedoch scheint es so unvermeidbar wie nachvollziehbar, dass einzelne Akteure von der moralischen Überlegenheit ihrer jeweiligen Position gegenüber anderen überzeugt sind, was die affektive Dimension von Kulturkämpfen ausmacht, aber auch zu weiteren unbeabsichtigten Dynamiken im Diskurs führen kann.
In seinem Blogbeitrag Die Redeweise der Moralisierung: Sprachliche Strategien des Nichthinterfragens beschäftigt Felder sich mit einer sprachlichen Strategie, bestimmte Sichtweisen entweder als verwerflich und unhaltbar oder aber als zwingend notwendig zu verpacken. Bei der Redeweise der Moralisierung kann eine gegnerische Position abgewertet werden, indem sie mit etwas in Verbindung gebracht wird, das die Gemeinschaft ablehnt – zum Beispiel Krieg oder Unterdrückung. Oder es wird umgekehrt die eigene Position sprachlich mit absolut hochwertigen Gesichtspunkten wie Frieden oder Gerechtigkeit in Verbindung gebracht – und somit als nicht mehr hinterfragbar dargestellt. Das Strukturmuster, das eine bestimmte Aussage mit einer nicht verhandelbaren Gültigkeit versieht, lässt sich mit folgenden Formeln illustrieren. 1. Inhaltliche Position + unbezweifelbarer Wert = Gültigkeit der Aussage und damit der inhaltlichen Position, 2. Inhaltliche Position + allseits abgelehnter Wert = Aussage hat keine Berechtigung und damit auch die inhaltliche Position nicht. Wird dieses Prinzip erkannt, kann der Diskursbeendigung widersprochen und der demokratische Austausch am Leben gehalten werden.
Wenn einem Wort (wie Frieden oder Gerechtigkeit) also eine moralische Strahlkraft zugesprochen wird, wollen alle Akteure ihre eigene Position mit diesem Wort in Verbindung bringen. Schließlich will jeder im Kulturkampf auf der Seite der Guten stehen. Während Felder die Moralisierungsstrategien aufdeckt, mit denen diese Verbindung hergestellt wird, fragt Bloching, welchen Einfluss diese Dynamik auf die Bedeutung des jeweiligen Zeichens hat, mit dem sich jeder schmücken will.
Zusammen mit Landschoff beschreibt er dies in einem Artikel im sai-Magazin: Politische Symbole – ein Farbspektrum. Darin reflektieren sie die Diskussion um die Beleuchtung der Allianz-Arena in Regenbogenfarben für das Fußball-EM-Spiel Deutschland–Ungarn: Die UEFA hatte die vom Münchner Stadtrat beantragte Aktion verboten – weil sie ein politisches Statement darstelle. Dies gibt Anlass zu einer semiotischen Reflexion über die politische und moralische Funktion von Zeichen (seien es sprachliche Zeichen oder rein visuelle Symbole wie eine Regenbogenfahne). Sie resümieren, dass Zeichen nur dann als politisch aufgefasst werden können, wenn sie auch die politische Position adressieren, gegen die sie sich richten. Einen bestehenden Konsens im sicheren Kreis der eigenen Blase zu reproduzieren, dient demnach keinem politischen Zweck, sondern letztlich dem eigenen Prestige. Dies ist auch der Grund, warum das Hinknien während der Nationalhymne bei Colin Kaepernick noch eine politische Geste war: Es richtete sich gegen den strukturellen Rassismus eines bestimmten Staates, erforderte Mut und provozierte Diskussionen. Das Hinknien während der Fußball-EM 2021 hingegen stieß niemandem vor den Kopf, da es sich gegen niemanden richtete; das Symbol den Hinkniens inflationierte zum bloßen formalen Ritual, weshalb es auch von der UEFA nicht als politisches Statement aufgefasst und verboten wurde. Für das Symbol des Regenbogens bedeutet dies: Gerade dann, wenn es unbequem ist und auf Widerstand stößt, wohnt ihm ein politisches Potenzial inne. Andernfalls droht es zum bloßen Mode-Accessoire zu verkommen.
Inwiefern eine inszenierte Tugendhaftigkeit politische Symbole aushöhlen und in Kulturkämpfen die Reaktanz verschiedenster Akteure hervorrufen kann, untersuchte Bloching in einem Paper zusammen mit Bettag et al.: Woke. Ein Stigmawort zwischen Begriff und Chiffre. Der Duden definiert woke als „in hohem Maß politisch wach und engagiert gegen (insbesondere rassistische, sexistische, soziale) Diskriminierung“. Bettag et al. hinterfragen die Aktualität dieser Definition und stellen ihr eine kontextsensitive Analyse der Gebrauchsbedeutung entgegen. Sie zeichnen nach, wie die Bedeutung des Wortes sich schon bald nach dem Import aus der African American Language von einer positiven Konnotation im Sinne der Duden-Definition wegbewegt, generalisiert und inflationiert hat: Das Wort ist zur inhaltsleeren Chiffre geworden. Finden sich im deutschen Diskurs (v.a. auf Twitter) zu Beginn noch positive Selbstzuschreibungen als woke, so scheint diese auf das eigene Prestige abzielende Selbstdarstellung schnell Trotzreaktionen zu provozieren. Schon bald wird der Ausdruck nur noch ironisierend oder als Stigmawort gebraucht für eine als überheblich, selbstgerecht und heuchlerisch wahrgenommene Form des „Links-Seins“. Dabei hat woke keinen festen Bedeutungskern, sondern wird auf so unterschiedliche Themenbereiche wie Genderpolitik, Queersein, Rassismus, Klimaproteste, Medien, Politiker, Nahrungsmittel, Weltmeisterschaften, Eltern, Hollywoodfilme, Sprachkritik oder Großstädter angewandt. Linear zur Verbreitung des sprachlichen Zeichens woke im deutschen Sprachraum hat sich also erstens sein Bedeutungskern weitestgehend ausgehöhlt und zweitens seine Rolle in Kulturkämpfen von einer positiven Selbstzuschreibung zu einer negativen Fremdzuschreibung um 180° gewandelt.