KULTURKAMPF UM DEN BUND FÜRS LEBEN
Wie sich die Ehe vor der Verdunkelung bewahren konnte
Von Janine Dengler
Die Ehe existiert spätestens seit der Antike und ist bis heute ein wesentlicher Bestandteil vieler Kulturen. Während die einen mit der Ehe die Besiegelung der Liebe zweier Menschen assoziieren, denken andere an einen rechtlichen Vertrag mit steuerlichen Vorteilen oder an die 2017 eingeführte Ehe für gleichgeschlechtliche Paare. Obwohl die Ehe in der Vergangenheit immer wieder kritisiert wurde, ob im Hinblick auf steigende Scheidungsraten, sinkende Eheschließungen oder weil sie ausschließlich heterosexuellen Paaren vorbehalten war, hat sie nach wie vor Bestand. Die Forderung nach einer „Ehe für alle“, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit, verdeutlicht, dass sie immer noch als erstrebenswert gilt und gesellschaftlich relevant ist.
Aber wie hält die Ehe der wiederkehrenden Kritik stand?
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns den Diskurs um die Ehe näher anschauen, denn die Bedeutung der Ehe als kulturelles Erbe vollzieht sich durch die Versprachlichung verschiedener Positionen. Ein Kulturerbe kann dabei gesellschaftlich akzeptiert und als erhaltungswürdig angesehen werden wie das Heidelberger Schloss, das (hoffentlich) niemand abreißen will. Es kann aber auch problematisiert und infrage gestellt werden, was der Diskurs um die Umbenennung von Straßennamen in Berlin wie der Bismarckstraße verdeutlicht. So wurde der Straßenname aufgrund von Kontakten Ottos von Bismarck zum antisemitischen Lager problematisiert. Während die einen sich für eine Umbenennung der Bismarckstraße und damit für eine Tilgung aussprechen, äußern andere, dass der Straßenname mit einer Hinweistafel versehen werden soll, die über den problematischen Sachverhalt aufklärt.
Wird ein kulturelles Erbe wiederkehrend gesellschaftlich problematisiert und infrage gestellt, kann dies bei einer Verengung auf die problematische Bedeutung zu einer Verdunkelung führen. Damit wird an den im Projekt beschriebenen idealtypischen Verdunkelungsprozess angeknüpft, bei welchem ein kulturelles Erbe durch problematische Referenzen ergänzt wird, eine problematische Bedeutung erhält und verdunkelt, was zu einer Tabuisierung und Tilgung oder einer pädagogischen Rahmung führen kann. Das Konzept sowie der deskriptive Begriff der Verdunkelung werden durch eine Sonnenfinsternis dargestellt, bei welcher der Mond die Sonne schrittweise verdunkelt.
Im Kontext der Ehe ist es nun besonders interessant, dass diese als kulturelles Erbe immer wieder kritisiert wurde, aber keine Verdunkelung erfahren hat. Die Ehe existiert schließlich heute immer noch und die Diskussion um die Öffnung der Ehe für alle im Jahr 2017 verdeutlicht, dass sie keine Einbußen in der Relevanz erfahren hat. Dies wirft die Frage auf, wie sich die Ehe vor der Verdunkelung bewahren oder diese abwenden konnte.
Die Ehe ist ein verdunkelungsresistentes kulturelles Erbe
Dieser Forschungshypothese bin ich im Rahmen meiner Bachelorarbeit nachgegangen. Dazu wurde der Diskurs um die Ehe mithilfe einer digitalen korpusbasierten Diskursanalyse in den Bereichen Recht, Politik und Gesellschaft untersucht. Die digitale Analyse hat dabei den Vorteil, dass, obwohl immer nur ein Diskursausschnitt betrachtet wird, dennoch eine große Anzahl von Sprachdaten analysiert werden kann. Die Untersuchung in den drei Bereichen Recht, Politik und Gesellschaft, ist dadurch zu begründen, dass die Ehe zum einen in Gesellschaft und Politik ausgehandelt wird, aber auch immer durch juristische Gruppen, die rechtliche Aspekte prüfen, mitbestimmt wird. Der Diskurs um die Ehe bewegt sich somit diskursiv in diesen Bereichen.
Verdunkelungsmomente im Diskurs finden
Um eine Verdunkelungsresistenz zu untersuchen, müssen zunächst Verdunkelungsmomente ausfindig gemacht werden. Ziel ist es, so die geäußerten Problematisierungen, Infragestellungen oder Kritik in Bezug auf die Ehe einzufangen. Wie können wir diese aber im Diskurs finden? Dafür wurden agonale Zentren im Diskurs um die Ehe in zwei Korpora ermittelt, welche die verschiedenen Geltungsansprüche der Diskursakteure erfassen sollen. Dazu müssen allerdings Zeitpunkte ermittelt werden, an denen die Analyse angesetzt werden soll. Da es dem Verdunkelungsprozess entsprechend am Ende zu einer Konsolidierung im Recht, zum Beispiel durch eine Gesetzesänderung, kommen kann, stellen diese einen guten Ansatzpunkt dar. Somit kann ein möglicher Verdunkelungsprozess von hinten nachvollzogen und somit rekonstruiert werden. Die Analyse einschlägiger Gesetzesänderungen, die sich auf die Ehe beziehen, ergab zum einen die Eherechtsreform im Jahr 1977 und zum anderen die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare 2017. Der Diskurs um diese beiden einschneidenden Gesetzesänderungen wurde dann in einem Politikkorpus, welches die Plenarprotokolle des deutschen Bundestages von 1949 bis 2021 umfasst, und in einem Gesellschaftskorpus bestehend aus Artikeln der Wochenzeitung die Zeit von 1953 bis 2021 untersucht. Die beiden Korpora wurden zudem thematisch auf den Diskurs um die Ehe eingeschränkt und der betrachtete Zeitraum auf jeweils fünf Jahre um die Gesetzesänderungen herum festgelegt. Des Weiteren wurden sowohl quantitative korpuslinguistische Verfahren als auch qualitative Ansätze verbunden, um eine möglichst große Menge der Sprachdaten analysieren zu können.
Die ermittelten Verdunkelungsmomente, die sich aus den agonalen Zentren ergeben, wurden anschließend mit den Gesetzesänderungen, welche die Ehe betreffen, abgeglichen, um zu untersuchen, ob diese zu einer Anpassung oder Änderung im Gesetz führen und somit auch Aufschluss über den Ausgang der Verdunkelung geben. Kommt es weder zu einer legislativen Konsolidierung der Verdunkelungsaspekte noch zu einer Tilgung oder vollständigen Verdunkelung, könnte dies auf eine Resistenz hinweisen. Um eine Resistenz nachzuweisen, muss jedoch ein Wandel in der Versprachlichung der Ehe vor und nach den Gesetzesänderungen erkennbar sein. Genauer gesagt, muss es vor der Gesetzesänderung zur Infragestellung und Problematisierung der Ehe kommen und nach der Gesetzesänderung eine zunehmend positivere Versprachlichung der Ehe ersichtlich werden. Deshalb ist eine diachrone Betrachtung auf der Sprachoberfläche notwendig, die mithilfe von wertenden Attributen wie Adjektiven und Kookurrenzen einen Wandel in der Versprachlichung untersucht. Zudem wurden mithilfe einer Kookkurrenzanalyse auch Kollokationen um den Ehebegriff betrachtet, da negativ besetzte Ausdrücke, die mit dem Ehebegriff kollokieren und diesen Begriff in seiner Bedeutung mit konstituieren, ebenfalls auf eine Verdunkelung hinweisen können. In einem letzten Schritt wurde die Versprachlichung der Ehe qualitativ mittels einer zufälligen Stichprobe untersucht, um zu überprüfen, ob sich die Ergebnisse aus den ersten beiden Zugängen bestätigen.
Kritik an der Hausfrauenehe und dem Scheidungsrecht vor 1977
Die Analyse ergab, dass besonders das Modell der Hausfrauenehe kritisiert wurde. Gesetzlich wurde der verheirateten Frau vor 1977 die Führung des Haushaltes zugewiesen und eine Erwerbstätigkeit war nur im finanziellen Notfall vorgesehen. Kritisiert wurde dabei, dass die Frau keine Wahlfreiheit bezüglich ihres Tätigkeitsbereichs hat und daraus eine Ungleichbehandlung von Ehemann und Ehefrau entsteht. Zudem hatte die verheiratete Frau einen Nachteil gegenüber unverheirateten Frauen, denn diese konnten ihren Tätigkeitsbereich frei wählen. Dieser Aspekt stellt einen Verdunkelungsmoment dar, der 1977 durch das Eherechtsreformgesetz aufgegriffen wurde. Seit 1977 wird verheirateten Paaren eine partnerschaftliche Aushandlung der Tätigkeitsbereiche ermöglicht, die nun nichtmehr nur der Frau den häuslichen Bereich zuordnet, sondern auch die Erwerbstätigkeit ermöglicht, wenn die Ehepartner dies einvernehmlich vereinbaren.
Ebenso wurde das Scheidungsrecht kritisiert, denn das geltende Verschuldensprinzip setzte im Scheidungsfall die Ermittlung der Scheidungsschuld voraus und zwang die Ehepartner bis zur Feststellung dieser dazu, die Ehe fortzuführen. Die Aushandlung vor Gericht, warum die Ehe gescheitert war, gehört zudem wohl nicht zu den angenehmsten Angelegenheiten, die im Diskurs häufig mit der Metapher „dreckige Wäsche waschen“ beschrieben wurde. Im Falle einer Scheidung wurde aber auch der daran angeknüpfte Unterhaltsanspruch der Frau kritisiert, denn diese hatte, falls ihr die Schuld an der Scheidung gegeben wurde, kein Anrecht auf Unterhalt, was durch die Hausfrauenehe bedingt dazu führte, dass sie keine Einnahmen hatte und somit in eine existenzbedrohende finanzielle Situation gebracht werden konnte. Die Ehe konnte die Frau daher in ein starkes finanzielles Abhängigkeitsverhältnis bringen und macht gemeinsam mit der rechtlichen Situation eine Ehe zu dieser Zeit wohl eher unattraktiv und verdunkelt diese. Die angeführten Kritikpunkte wurden 1977 durch die Eherechtsreformen getilgt, indem die Scheidungsschuld ganz aus dem Gesetz verschwand und stattdessen eine Auflösung der Ehe im Falle der Nichtwiederherstellbarkeit ermöglicht wurde. Zudem wurde der Unterhaltsanspruch von dem Tätigkeitsbereich abgekoppelt und stattdessen von dem Bedarf der Personen abhängig gemacht.
In beiden Fällen wird deutlich, dass die verdunkelten Teilkonzepte im Recht entweder getilgt oder geändert wurden. Auf der Sprachoberfläche zeichnete sich zum Zeitpunkt der Gesetzesänderung ebenfalls ein Wandel ab, denn vor der Änderung wird die Ehe eher mit negativen Attributen versehen und zunehmend problematisiert, während nach der Tilgung der verdunkelten Aspekte eher neutrale bis positive Attribute zu finden sind. Durch den Ausschluss der verdunkelten Aspekte konnte somit eine vollständige Verdunkelung der Ehe verhindert werden, was eine Verdunkelungsresistenz verdeutlicht.
Kritik an der Ehe als diskriminierende exklusive Verbindung zwischen Mann und Frau
Der Diskurs um die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare ist noch nicht allzu lange her und war ein langwieriger Prozess, der aber auch besonders zwei Jahre vor der Gesetzesänderung 2017 präsent war. Mithilfe der korpusbasierten Diskursanalyse konnte wiederkehrende Kritik an der Exklusivität der Ehe für verschiedengeschlechtliche Paare herausgearbeitet werden. Es wird kritisiert, dass der verfassungsrechtliche Ehebegriff die Ehe als Verbindung zwischen Mann und Frau definiert (die tatsächlich nicht im Gesetz selbst aufgeführt wurde und vermutlich aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1993 stammt, auf welches häufig referiert wird), dadurch die Verschiedengeschlechtlichkeit betont und somit nur heterosexuelle Paare einbezieht. Verstärkt wurde dies durch Argumente, welche die Ehe als Zweck der Familiengründung und die Fortpflanzungsfähigkeit hervorheben. Dass homosexuellen Paaren das Eingehen einer Ehe verwehrt wird, wird als Diskriminierung angesehen. Zwar wurde im Jahr 2001 das Lebenspartnerschaftsgesetz eingeführt, jedoch wird kritisiert, dass dieses nicht mit der Ehe gleichzusetzen sei, da doch viele Einschränkungen bestehen beispielsweise im Steuer- und im Adoptionsrecht.
Mit dem 2017 erlassenen Gesetz wird die Ehe auch für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet und die Exklusivität somit aufgehoben. Auch hier lässt sich beobachten, dass die verdunkelten Teilaspekte ausgeschlossen werden und der Diskriminierung durch die Erweiterung des Ehebegriffs entgegengewirkt wird, was den Zugang zur Ehe für eine breitere Bevölkerungsgruppe mit verschiedenen sexuellen Orientierungen ermöglicht und somit eine Verdunkelung der Institution verhindert. Dies bestätigte sich zum Teil in der sprachoberflächlichen Betrachtung, die von einer negativen zu einer eher neutralen Versprachlichung übergeht, wobei der sprachliche Wandel sich nicht so eindeutig abzeichnet wie im Diskurs um die Eherechtsreformen, was durch die steigende Sensibilität für politische Korrektheit, gerade im Hinblick auf wertende Sprache, erklärt werden könnte.
Die Ehe rettet sich selbst?
Die Analyse hat gezeigt, dass die Ehe sich durch den Ausschluss der verdunkelten Teilaspekte, die durch Anpassungen im Recht erfolgen, vor einer Verdunkelung rettet. Anders als im idealtypischen Verdunkelungsprozess, in dem es, wenn wir uns an die Bismarckstraße erinnern, zu einer pädagogischen Rahmung oder Tabuisierung kommt, verfestigt sich hier nicht der verdunkelte Teilaspekt, sondern die gestellte Forderung im Recht, indem die verdunkelten Teilkonzepte getilgt werden. Dadurch, dass dies die Verdunkelung verhindert, entsteht eine Verdunkelungsresistenz dieses kulturellen Erbes und die Ehe nimmt entgegen dem idealtypischen Verdunkelungsprozess einen anderen Ausgang. Dieser kann durch einen direkten Übergang der Infragestellung zur (neuen) Hegemonie dargestellt werden.
Die nächste Herausforderung wartet schon?
Bisher hat sich die Ehe gut geschlagen und konnte alle bisherigen Herausforderungen erfolgreich abwenden. Vielleicht steht die nächste Herausforderung aber auch schon vor der Tür. Im März dieses Jahres hat die französische Politologin Emilia Roig in ihrem erschienenen Buch „why we matter. Das Ende der Unterdrückung“ das Ende der Ehe gefordert, mit der Begründung, dass diese für die Unterdrückung der Frauen verantwortlich sei. Dies zeigt, dass die Ehe auch weiterhin infrage gestellt und kritisiert wird und nun sogar eine völlige Abschaffung der Institution gefordert wird. Die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare stellt eben nur einen ersten Schritt in Richtung Gleichstellung dar. Ob sich hier also bereits ein neuer Diskurs entfacht, wird sich noch zeigen. Fakt ist, dass es also spannend bleibt, welchen Herausforderungen sich die Ehe auch in Zukunft noch stellen muss, die ihre Resistenz auf die Probe stellen werden.