Spätestens seit der Veröffentlichung seines Buchs mit dem gleichnamigen Titel wird Samuel Huntingtons kontroverse These des „Clash of Civilizations“ medienwirksam diskutiert. Darin geht der US-Politologe davon aus, dass sich die wichtigsten Kriege und Konflikte weltweit nicht mehr zwischen souveränen Nationalstaaten, sondern vielmehr „an den Bruchlinien zwischen den [unterschiedlichen] Kulturen“ und Kulturkreisen entzünden.
Fürsprechern dieser These schlägt seitdem enormer Gegenwind entgegen. Ein Quäntchen Wahrheit enthält das Buch dennoch: Heute sind die entscheidenden politischen Konflikte tatsächlich kultureller Natur. Ihr Austragungsort, das Schlachtfeld unterschiedlicher Weltbilder, hat sich jedoch verschoben. An die Stelle interreligiöser Kriege zwischen Kultur- und Glaubensgemeinschaften sind heute innergesellschaftliche Grabenkämpfe getreten. Stärker als nach außen und auf die Nachbarstaaten, schauen politische Gemeinschaften heute zumeist nach innen, auf sich selbst und die tiefliegenden Differenzen zwischen Freunden, Nachbarn, Arbeitskollegen oder der eigenen Familie.
Ob innerhalb der EU, der USA oder in Deutschland – ob Brexit, vergangene Wahlkämpfe oder Debatten um die Angemessenheit oder Notwendigkeit politischer Maßnahmen zur Bekämpfung von Klimakatastrophen und Pandemien – medial verbreitete und ausgetragene Konflikte um Deutungs- und Gestaltungsmacht führen dabei in jüngster Zeit eines vor Augen: Selten waren unsere Gesellschaften so zerrissen wie heute. Polarisierung ist zum Buzzword politischer Beobachter, Demoskopen und Medienexperten geworden.
Wer sind wir als Gesellschaft(en)? Was macht uns aus? Wo kommen wir her und wo wollen wir hin?
Derartige Auseinandersetzungen um die Frage der eigenen Identität, der gemeinsamen Geschichte und Zukunftsvision bestimmen dabei zunehmend politische Debatten. Entsprechend werden auch grundlegende Ideen und Vorstellungen darüber, was die jeweiligen Gesellschaften als schützenswerte Grundpfeiler ihrer ererbten Kultur und ihres Weltbildes ansehen, öffentlichkeitswirksam und anscheinend unversöhnlicher denn je diskutiert.
Hunter tauft die neuen Konfliktlinien „Culture Wars“
Im Jahr 1991 hat James Davison Hunter diesem Trend einem Namen gegeben, der seitdem in Wissenschaft und Öffentlichkeit anhaltenden Widerhall gefunden hat: Culture Wars (eine Lehnübersetzung der deutschen Bezeichnung „Kulturkampf“ aus der Bismarckzeit).
In seinem gleichnamigen Buch beschreibt der US-Soziologe Kulturkämpfe als Ausdruck ideologischer Spaltungen in der US-amerikanischen Öffentlichkeit, die in zutiefst polarisierten Debatten über die Trennung von Kirche und Staat, Abtreibungsfragen, die Öffnung der Ehe, Sexualunterricht oder der Evolutionslehre Gestalt finden.
Dabei stehen sich laut Hunter und einem breiten Katalog ihm nachfolgender Autoren orthodoxe und progressive Eliten mit konträren Moralvorstellungen, Gesellschaftsentwürfen, Visionen und Weltbildern diametral gegenüber.
Die Mobilisierung dieser Unterschiede innerhalb der öffentlichen Debatte wiederum lassen dabei seit jeher bestehende Cleavages – Religionszugehörigkeit, Einkommen, Klassenunterschiede sowie regionale Differenzen zwischen Stadt und Land – in den Hintergrund treten. In den Vordergrund der Debatte tritt vielmehr eine moralische Polarisierung in konservative und liberale Wertgemeinschaften mit sich gegenüberstehenden Lebensstilen.
Über die Zeit setzt sich hierdurch eine Spirale in Gang: Kontroverse Streitthemen geraten zum grundlegenden Konflikt um die Aufrechterhaltung der distinkten Wertvorstellungen, Weltbilder und Lebensstile. Politische Differenzen kochen hoch zu elementaren Identitätsfragen. Hierdurch wird die Debatte zunehmend von Gefühlen getragen, das politische Gegenüber mit tiefen negativen Emotionen bis hin zu Ekel verbunden. Konsens und Kompromiss werden immer unwahrscheinlicher. Für die jeweiligen Kulturkämpfer färbt sich die Welt zunehmend in Schwarz-Weiß. Zwischentöne verschwinden nach und nach von der Bildfläche.
Alte & neue Grabenkämpfe offenbaren: Culture Wars bestimmen die politische Tagesordnung
So dystopisch dies klingen mag, so relevant sind Hunters Beobachtungen der US-Gesellschaft heute. Angesichts der anhaltenden gesellschaftlichen Polarisierung haben seine Überlegungen auch dreißig Jahre später kaum an Bedeutung eingebüßt. Dies lässt sich anhand von vier Trends und Entwicklungen darstellen.
Erstens hat der Begriff „Kulturkampf“ auch abseits seiner akademischen Theoretisierung in den vergangenen Jahren eine ungeheure Prominenz erfahren. Ein Blick in die tägliche Berichterstattung genügt dabei, um sich dessen ungebrochene, wenn nicht wiederbelebte Beliebtheit vor Augen zu führen. Seit den 1990er-Jahren ist der Terminus für Aktivisten, Journalisten und Politiker zum geflügelten Begriff avanciert und liegt bei allerlei Streitthemen schnell zur Hand. Dies zeigt sich nicht nur in den Schlagzeilen der US-Debatte um Abtreibungs- oder Bildungsfragen. Auch hierzulande ist immer häufiger von einem Kulturkampf zu lesen, wenn es beispielsweise um Dieselverbote, vegane Schnitzel, Billigflüge, Tempolimits, Lastenräder oder gendersensible Sprache geht. Nahezu jede Diskussion - schon die Frage, ob es nun „Schrippe“, „Brötchen“, „Wecken“ oder „Semmel“ heißt - wird dabei schnell mit dem Stempel „Culture War“ versehen. Nun mag mancher argumentieren, dass es sich damit schlicht um ein Modewort handelt. Für uns als sozial-konstruktivistische Wissenschaftler heißt das jedoch: Je mehr von „Culture Wars“ die Rede ist, desto lebendiger sind die Gedanken hinter dem Begriff. Denn auch oberflächliche Inszenierungen zielen auf zugrundeliegende gesellschaftliche Trends ab; auf die eine oder andere Weise repräsentieren und aktualisieren sie somit einen kollektiven Konzeptwandel.
Culture Wars bleiben also in den Köpfen der Menschen.
Zweitens sind auch die von Hunter und weiteren Autoren beschriebenen Kulturkämpfe noch lange nicht ausgefochten und beigelegt. Im Gegenteil: Die moralisch-polarisierenden Gesellschaftsdebatten um Sexualität, Religion, gesellschaftliche Identität und verschiedene Formen der Diskriminierung brennen immer noch lichterloh. Dies offenbarte zuletzt der republikanische Sieg bei der Gouverneurswahl im Bundesstaat Virginia, der ebenfalls im kulturellen Schützengraben um öffentliche Lehrpläne errungen wurde. Gleichzeitig werden alte Debatten von neuen Bewegungen wie etwa #metoo oder #BlackLivesMatter stetig neu angefacht.
Längst handelt es sich dabei jedoch nicht mehr um ein reines US-Phänomen oder den vom republikanischen Präsidentschaftsanwärter Patrick Buchanan 1992 beschworenen „War for the Soul of America“. Kulturkämpfe werden heute wahrscheinlich in jeder demokratischen Gesellschaft und im Zuge einer immer stärker globalisierter Öffentlichkeit auch über nationale Grenzen hinweg ausgetragen.
Dieser Trend lässt sich beispielhaft an der #BlackLivesMatter-Bewegung nachvollziehen. Ursprung ist hier ein zunächst jahrzehntelang ausgefochtener Culture War in den USA – dem Kampf afroamerikanischer Bürger gegen Diskriminierung. In den vergangenen Jahren erlebte die Bewegung jedoch darüber hinaus eine Welle weltweiter Anteilnahme und solidarisierender Demonstrationen. Dabei breitete sich der Kampf für Gleichberechtigung inhaltlich sowie räumlich aus und führte rund um den Globus zu hitzigen Diskussionen bis hin zu tätlichen Auseinandersetzungen in Fragen gesellschaftlicher Identität, strukturellem Rassismus und nicht zuletzt der kolonialen Vergangenheit Europas. Im kollektiven Gedächtnis dürften dabei vor allem die Bilder beschmierter Statuen und Denkmäler sowie des weltweiten gemeinsamen Kniefalls zahlreicher Profisportler bleiben, die per Bildschirm um die Welt gingen.
Von einer zunächst US-amerikanischen Besonderheit sind Culture Wars also zu einem transnationalen Phänomen geworden.
Drittens sind seit den 1990er-Jahren neue Austragungsorte kultureller Grabenkämpfe hinzugekommen, die die jeweiligen Öffentlichkeiten und Gesellschaften tief spalten.
Die zumindest in den demokratischen Gesellschaften des Westens intensiv geführte Debatte um den Umgang mit dem Klimawandel beispielsweise lässt sich zur Stunde guten Gewissens als neuer Kulturkampf bezeichnen. Einer aktuellen Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung zufolge werden hier beispielsweise immer häufiger politische Randpositionen bezogen. Und auch in der öffentlichen Debatte lassen sich immer seltener Zwischenfrequenzen wahrnehmen. Hier stehen sich Klimaskeptiker und Fridays-for-Future bis hin zur radikalen Bewegung Extinction Rebellion unversöhnlich gegenüber. Von den Einen wird Umweltpolitik dabei als tief moralische Aufgabe empfunden, die Anderen wehren sich gegen angebliche Hysterie und grenzenlosen Klimawahnsinn.
Und auch die hierzulande, wie auch in den USA brodelnde Debatte um Impfpolitik und die damit verbundenen Frage von Freiheit und Selbstbestimmung gegenüber Solidarität und kollektivem Handeln gerät zunehmend zum gesellschaftlichen Spaltpilz. Die New York Times taufte die Auseinandersetzungen zwischen Geimpften und Ungeimpften angesichts der jüngsten Pandemiewellen bereits „Europe's Covid Culture War“.
Angefeuert werden die Auseinandersetzungen dabei nicht zuletzt auch durch ein neues Phänomen: die Verschränkung moralisch-kultureller Konflikte mit sozio-ökonomischen Verteilungsfragen, die von populistischen Parteien für ihre Zwecke mobilisiert werden. Neue Rechte, wie die AfD und der Rassemblement National, aber auch etablierte konservative Parteien wie die Republikaner in den USA oder die britischen Tories nutzen dabei die gesellschaftlichen Grabenkämpfe sowie die darüber oft vernachlässigten Verteilungsfragen, um abgehängte Wählerstimmen für ihre Ziele zu gewinnen. Dabei gerät die Trennung zwischen progressiven und konservativen Weltbildern in den Hintergrund. In den Vordergrund drängt sich hingegen zunehmend eine bislang ungeahnte Ablehnung von Staat, Medien und Wissenschaft, die mit einem nach Außen abgrenzenden, stellenweise nationalistischen Menschenbild vermengt wird. Für kundige Beobachter wie den US-Historiker Andrew Hartman, änderte dieser Wandel zuletzt auch die Qualität der Kulturkämpfe, die sich zuweilen „angrier, more tribal, and more fundamental“ darstellten und heute eine „ungewöhnlich toxische Politik“ hervorbrächten.
Die Liste der Culture Wars wird also stetig länger.
Viertens lassen sich unterschiedliche Entwicklungen ausmachen, die die Relevanz der Culture Wars für den weiteren Gesellschaftswandel in der nahen und mittleren Zukunft vor Augen führen.
In theoretischer Perspektive wird diese Relevanz besonders deutlich, wenn man das gesellschaftliche Phänomen kultureller Polarisierung mit der fortschreitenden Vermarktung durch den globalen Kapitalismus und die wachsende Schere zwischen Arm und Reich verbindet.
Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek etwa führt die bei populistischen Parteien zu beobachtende paradoxe Verflechtung wirtschaftlich-konservativer Gedanken mit unteren Gesellschaftsschichten, die entgegen ihren eigenen ökonomischen Interessen und im Sinne großer Unternehmen und Konzerne wählen, auf einen den Kulturkämpfen immanenten Klassenkampf zurück. In diesem diene ein moralischer Kampf unterschiedlicher Lebensstile zwischen wirtschaftlich Abgehängten und vermeintlich abgehobenen Liberalen letztlich einseitigen wirtschaftlichen Interessen. Wird diese Verbindung nicht gelöst und machen sich wirtschaftliche Interessen auch weiterhin die Angst gegenüber Fremden und Geflüchteten politisch zunutze, könnte diese Verbindung nach Žižek die innergesellschaftlichen Kulturkämpfe in Zukunft noch weiter antreiben, an deren Ende letztlich politischer und ökonomischer Zusammenbruch steht.
Gleichzeitig kann die Dynamik der Kulturkämpfe nicht nur politisch angefacht, sondern auch über die Marktkräfte selbst weiter befeuert werden. Hier liefert US-Philosophin Nancy Fraser mit ihrem Konzept des progressiven Neoliberalismus gedanklichen Anstoß: Sie macht dabei einen Scheinkompromiss aus, der sich – getreu dem Motto „Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte“ – zunehmend durchzusetzen scheint. Demnach mache sich der Markt die auf Identitätsfragen fokussierte Nabelschau des linken Spektrums dahingehend zunutze, dass er eine symbolische Gleichstellung großspurig inszeniere, um diese neueren politisch-linken Themen kostengünstig zu bedienen, eine progressive Mehrheit zufriedenzustellen und somit über die bestehende und sich verstärkende ökonomische Ungleichheit hinwegzutäuschen. Verbindet man diesen Gedanken mit den Culture Wars, könnte der Markt somit auf den ersten Blick zwar zu einer Inflationierung der kulturellen Unterscheidungszeichen und damit einer Entschärfung der Kulturkämpfe führen. Gleichzeitig könnten Angebot und Nachfrage politische Entscheidungsträger, Medien und gesellschaftliche Akteure durch eine Dialektik der Distinktion jedoch vielmehr zu einer verstärkten Abgrenzung zwingen, sodass sich die Polarisierung gar noch verstärkt.
Neben dem voranschreitenden Kapitalismus lohnt es sich darüber hinaus, weitere gesellschaftliche Trends in den Blick zu nehmen: So ist einerseits denkbar, dass die polarisierten Kulturkämpfe nicht zu stärkerer Politisierung, sondern zur vielbeklagten Zunahme von Politikverdrossenheit beitragen. Schon heute zeichnen sich einzelne Gesellschaftsbereiche ab, in denen angesichts einer gespaltenen öffentlichen Debatte zwischen den Schützengräben eine „Exhausted Majority“ zurückgelassen wird, die sich keinem der polarisierten Lager zugehörig fühlt, sich im Hinblick auf deren Streitfragen zusehends zurückzieht und ihre moderate Haltung in öffentlichen Diskursen kaum repräsentiert sieht.
Andererseits könnten die anhaltenden Makrotrends der „Großen Beschleunigung“ - Globalisierung, anhaltender Polykrisen, zunehmender Digitalisierung und identitärer Fragmentierung in sozialen Echokammern - und die damit einhergehende gesellschaftliche Verunsicherung die Relevanz moralisch-kultureller Fluchtpunkte für die Bildung und den Erhalt kollektiver Identitäten und Selbstverständnisse noch deutlicher hervortreten lassen. Deutungs- und Interpretationskonflikte innerhalb polarisierter und polarisierender Kulturkämpfe wiederum könnten damit auch künftig zu wichtigen Katalysatoren gesellschaftlicher Transformation und kulturellen Umbruchs werden.
Somit zeigt sich auch hier: Ob in der einen oder der anderen Form - Culture Wars bleiben also auch in Zukunft relevant.
Culture Wars als Katalysatoren gesellschaftlicher Transformation
Kritiker des Terminus „Kulturkampf“ wenden gerne ein, dass Hunters zweidimensionale Sicht auf die gesellschaftliche Spaltung zu engstirnig sei. Gleichsam wird argumentiert, im Zuge voranschreitender gesellschaftlicher Transformationen seien die eigentlichen Culture Wars mittlerweile Geschichte, das Tauziehen zwischen liberalem und konservativem Weltbild wäre ohnehin nichts anderes als Ausdruck einer gesunden demokratischen Debatte.
All die genannten Beispiele, Trends und mögliche Entwicklungen verdeutlichen jedoch: Culture Wars sind kein kalter Kaffee oder der sprichwörtliche alte Wein in neuen Schläuchen. Nimmt man die grundlegende Definition von „Kulturkampf“ in den Blick – das polarisierende Ringen um moralische Deutungshoheit um die eigene kulturelle Identität im Zuge gesellschaftlichen Wandels –, so sind die Überlegungen so relevant wie eh und je.
Dabei stellen sich wegweisende Fragen:
Sind alle Culture Wars gleich? Gibt es eine einheitliche Mechanik?
Wie kommt es zu kulturellen Transformationsprozessen? Welche gesellschaftlichen Faktoren und Bedingungen begünstigen deren Entstehen und Erfolg?
Und wie stehen dabei Sprache, öffentliche Debatte, praktisches Handeln und Gesellschaftswandel zueinander?
Unsere Forschung im Tandem „Culture Wars: Kämpfe ums kulturelle Erbe“ will hierauf Antworten finden. In den unterschiedlichen Teilprojekten nehmen wir insgesamt drei grundverschiedene gesellschaftliche Bereiche – den Diskurs rund um den gesellschaftlichen sowie rechtlichen Ehebegriff, die europäische Geld- und Fiskalpolitik sowie die zeitgenössische Belletristik – unter die Lupe, um Wesen, Wandel, Gemeinsamkeiten und Unterschiede kultureller Umbrüche auszuloten.
Wir sind davon überzeugt: Culture Wars sind alles andere als ein weiteres Modewort, das getrost ignoriert werden kann. Im Angesicht anhaltender Polarisierung dürften gesellschaftliche Kulturkämpfe vielmehr über die wohl brennendsten Zukunftsfragen entscheiden.